Wirtschaftswachstum – Ein Krebsgeschwür

von Erich Reichle, Fällanden

Jeden Tag höre ich im Radio oder lese in den Medien das Reizwort „Wirtschaftswachstum“. Ich mag es schon gar nicht mehr hören oder lesen. Man redet vom stagnierenden, vom verzögerten, ja sogar vom rückläufigen oder vom Null-Wachstum. Jeden Tag neue Prognosen, in denen uns suggeriert wird, es sei absolut negativ und eine Katastrophe, wenn die Wirtschaft nicht ständig wachse. Damit seien Arbeitsplätze und überhaupt unser ganzer Wohlstand in Gefahr. Das ist reine Gehirnwäsche (gut für potentielle Anleger!) und ein riesiger Unsinn.

Meine Frage: Was wollen wir denn noch? Konjunktur und Wohlstand, bis wir in Müll und Unsinn ersticken? Noch mehr fressen, herumfahren, verschleudern, konsumieren? Alles noch luxuriöser, teurer, schneller, grösser, besser? Von allem noch mehr?

Schauen wir aber einmal genauer an, auf was sich denn unsere Wirtschaft stützt, so finden wir eine riesige Luftblase. Sie besteht nämlich in den Ländern der sogenannten 1. Welt, also bei uns, zum grössten Teil nur noch aus Dienstleistungen und Unsinnproduktion, verbunden mit einer ungeheuren Verschleuderung von Ressourcen.

Viele (angeblich wichtige) Wirtschaftszweige beruhen auf der Ausbeutung und Verschleuderung von Rohstoffen. Zudem sind sie verantwortlich für die weltweite Zerstörung und Verschmutzung. Es sind dies Tourismus, Auto- und Flugzeugindustrie, Dienstleistungen aller Art und natürlich die Kommunikations- resp. Elektronik-Industrie. Sie sind die Träger unserer Wirtschaft.

Landwirtschaft, Textilindustrie, Handwerk und Gewerbe sind nur noch lästige, notwendige Übel, sogenannte „Auslaufmodelle“. Kommende Generationen werden viele Berufe, die über Jahrhunderte die Grundlage und Vielfalt unserer Kultur bildeten, nur noch in nostalgischen Museen begaffen können. Vielleicht auch in einem Dorf der 3. Welt, das man während eines „Erlebniswochenendes“ nach einem Flug um die halbe Welt noch „konsumiert“.

Früher bestand die Wirtschaft zum grössten Teil aus dem, was man wirklich zum Leben brauchte. D. h. möglichst umfassende Selbstversorgung mit Lebensmitteln, Herstellung von Stoffen, Kleidern, Schuhen, Geräten, Werkzeugen und Fahrzeugen sowie das Bau- und Gastgewerbe usw. All dies funktionierte bis vor etwa 50 Jahren mehr oder weniger regional. Dadurch waren die Transportwege relativ kurz, und die Sache war übersichtlich.

Eingeführt wurden lediglich fehlende Rohstoffe oder Lebensmittel. Generell war es so, dass jedes Land möglichst viel selber produzierte, um unabhängig zu sein. Das war vernünftig, bedeutete sichere Arbeitsplätze, kurze Transportwege und kulturelle Vielfalt.

Dies alles sind wir in rasendem Tempo dabei zu zerstören resp. zu verlieren, indem wir eine gigantische Dienstleistungs-Luftblase aufpumpen, die eines Tages unweigerlich platzen wird. Dies wird spätestens dann sein, wenn der Kampf um die letzten Ressourcen (Erdöl, Wasser, Holz, Böden usw.) voll entbrannt, dessen Beginn wir teilweise ja schon beobachten können.

Wenn irgendwann kein Gas oder Erdöl mehr geliefert wird; wenn uns die armen Länder keine billigen Textilien oder Lebensmittel mehr produzieren, sondern sagen, sie hätten jetzt lange genug für uns als Sklaven gearbeitet; wenn das Klima verrückt spielt und wechselt zwischen Dürre und Sintflut, Hitze- und Kältewellen; dann werden wir dem verlorenen Wissen und der zerstörten Industrie vielleicht nachtrauern. Aber vermutlich werden wir ja dann Ausreden finden (wie wir es immer tun) und sagen, das hätte man doch nicht wissen können, und jetzt müsse man halt das beste daraus machen.

Die westliche Gesellschaft ist zu einer modernen Feudalgesellschaft geworden.

Während früher nur eine kleine Elite auf Kosten der Allgemeinheit in Saus und Braus lebte, so tut dies heute fast unsere ganze Überflussgesellschaft auf Kosten der armen Länder.

Die Menschen dort arbeiten für uns unter katastrophalen Bedingungen und zu Hungerlöhnen in der Elektronik-, Textil- und Autoindustrie sowie auf Farmen als Plantagen- und Erntearbeiter. Man nahm und nimmt den Armen das beste Land weg und verkauft es an Grossgrundbesitzer oder westliche Firmen, welche dort ihre Erzeugnisse billig produzieren lassen. Dabei werden korrupte und diktatorische Politiker geschmiert, und wenn das nicht funktioniert, unterstützt man halt die Opposition, um einen Umsturz herbeizuführen (eine Masche nicht nur der USA). Oder man spielt die armen Länder noch gegeneinander aus, um noch mehr Profit herauszuholen.

Sozialistische Ideen bei uns (Der Marxismus mit seinem „Klassenkampf“) und die Gewerkschaften haben bewirkt, dass die Arbeiter immer höhere Löhne forderten und gleichzeitig immer weniger Lust hatten zu arbeiten. Immer höhere Löhne, kürzere Arbeitszeiten und mehr Ferien ergeben aber kleinere Gewinne und höheren Konkurrenzdruck.

Man behalf sich zunächst mit billigen Arbeitern aus Portugal, Spanien, Italien, dem Balkan und der Türkei. Aber mit der Zeit stiegen auch deren Forderungen, und bald wurden sie nur noch für ortsabhängige Arbeiten gebraucht: Bau- und Gastgewerbe, Gemüseanbau, Autoindustrie sowie jene Produktion, die noch nicht in die 3. Welt exportiert war.

Die momentane fatale Situation entstand also aus einer Mischung verschiedener Faktoren:

  • Immer grössere Lohnforderungen, verbunden mit immer niedrigem Stellenwert „dreckiger“ Arbeit.
  • Rücksichtsloses und korruptes Vorgehen von Managern, Industriebossen und Politikern in Sachen Ausbeutung der 3. Welt.
  • Niemand will mehr arbeiten bei uns, höchstens noch vor dem Computer sitzen oder irgendjemand beraten (betreuen, therapieren, helfen) und dabei viel Geld verdienen.
  • Man hat den Menschen eingeredet, wenig arbeiten, viel verdienen, konsumieren, herumreisen und Spass haben sei der Schlüssel zum Glück.

Daraus entstand jene erwähnte Luftblase einer gigantischen Dienstleistungs-Industrie, welche die angeblichen Stützen unserer Wirtschaft sind: Elektronik ohne Ende, Tourismus, grenzenlose Mobilität, Konsum, Unterhaltung und Spass. Und um dies alles aufrechtzuerhalten, sollen wir noch mehr kaufen, telefonieren, herumfahren und verschleudern, sagen uns die Manager und Politiker.

Tatsächlich basiert dieses viel zitierte Wirtschaftswachstum nur auf schnellen, teilweise riesigen Gewinnen von Luftblasenfirmen. Sie produzieren und erwirtschaften eigentlich nichts, sondern verschleudern nur. Zudem werden die Konzerne immer riesiger, weil sie einander gegenseitig auffressen, und zwar auch wieder nur für den schnellen Gewinn.

Niemand hat mehr den Überblick. Das wird wiederum von raffinierten und grössenwahnsinnigen Managern ausgenützt, für sich selbst ungeheure Gewinne abzuschöpfen.

Das Ganze wird unweigerlich in einer weltweiten Katastrophe enden, so wie das Krebsgeschwür im einzelnen Menschen. Und so wie beim Krebsgeschwür darauf ankommt, dass man es rechtzeitig entdeckt und dann radikal.

Was wir endlich brauchen, ist geistiges Wachstum und die Erkenntnis, dass es so nicht weitergehen kann. Eine Konsum-, Dienstleistungs- und Spassgesellschaft, die nur noch auf Kosten anderer lebt, dabei den ganzen Planeten ausplündert und verschmutzt, steuert unweigerlich und unwiderstehlich dem Abgrund entgegen. Wir sind schon verdammt nahe dran. Unsere Zukunft – sofern es eine solche noch gibt – müsste etwa so aussehen:

  • Wir dürfen keine neuen Arbeitsplätze schaffen, die nur Unsinn produzieren und noch mehr zerstören.
  • Wir brauchen keine Ganzjahres-Versorgung mit allen Lebensmitteln.
  • Wir brauchen ein regionales Netz, kein globales (Transport- und Arbeitwege sparen).
  • Wir müssen wieder möglichst viel selber produzieren, und zwar schnell, solange das Wissen der Alten noch da ist.
  • Wir brauchen eine völlig neue Werte-Ordnung: Was ist überhaupt wichtig für unser Dasein? Was ist unsere Aufgabe? Was ist der Sinn des Lebens?
  • Wir müssen wieder Anstand lernen. Die Menschen der 3. Welt sind genauso wertvoll wie wir und dürfen nicht länger unsere Sklaven sein.
  • Wir sind nicht berechtigt, unseren Planeten auszubeuten und zu zerstören.
  • Wir brauchen Politiker, welche nicht nur für Grossfirmen da sind, sondern sich in Verantwortung und Anstand für das Allgemeinwohl einsetzen.

Zum Schluss ein Wort von Konrad Adenauer:

„Eine richtige Wirtschaftspolitik dient nicht Einzelnen und darf sich nicht zum Nutzen oder Schaden dieser oder jener Wirtschaftskreise auswirken; sie muss vielmehr in wohl abgewogener Entsprechung den Gesamtinteressen des Volkes dienen.“

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