Muss wirklich jeder studieren?

von Erich Reichle, Fällanden

Die alte Lebensweisheit „Schuster, bleib bei deinen Leisten“ besagt ganz klar: „Geh nicht über dich hinaus. Führe dein Leben so, wie es deinem Niveau entspricht“. Aber wie so viele andere Weisheiten scheint auch diese in der heutigen Turbozeit „überwunden“ zu sein. Jeder wird angehalten, über sich hinauszugehen, „Herausforderungen“ anzunehmen und sich mehr zuzutrauen, als eigentlich in ihm ist.

Einzelkinder werden gehätschelt durch „Helikoptereltern“, so dass sie letztlich ihre Grenzen gar nicht kennen, und zwar auf allen Gebieten, sei es nun Sport, Kunst oder eben Studium. Alles wird machbar, alles grenzenlos, wie ja die ganze westliche und bald auch östliche Gesellschaft. Das kann von ganz banaler Selbstüberschätzung bis hin zum Grössenwahn führen.

Viele Zeitgenossen, neben Schülern und Studenten auch Manager, Leiter, Lehrer, Professoren und Politiker, sind ständig am „Anschlag“, was sie selber oft kaum wahrnehmen (wollen!). Das wirkt sich dann aus als psychosomatische Symptome, unter anderem Schlafstörungen, Kopfschmerzen, Magen-Darmprobleme, Allergien, Herzinfarkt und natürlich psychische Störungen. Prestige, Druck der Eltern (Kind als Vorzeigeobjekt!) und der Umgebung tragen dazu bei, immer mehr zu wollen, als man eigentlich kann. Auch hier ist also ständiges Wachstum gefordert.

„Wachstum“, dieses auf allen Gebieten geforderte und täglich in allen Medien gepredigte Monster und Allheilmittel gegen alle Beschwerden der Gesellschaft und es einzelnen, ist wie ein Krebsgeschwür, das uns nach und nach auffrisst, geistig wie körperlich.

Natürlich soll man seine Fähigkeiten und Möglichkeiten einsetzen, ausbauen und ausnützen. Aber es ist allemal vernünftiger, eine Lehre zu absolvieren, die den eigenen Fähigkeiten und Möglichkeiten entspricht, als nach Gefilden zu streben, die jenseits seiner Intelligenz oder der körperlichen Anlagen entspricht.

Klar bringt man mit viel Fleiss auf manchen Gebieten grosse Fertigkeiten oder einen Abschluss mit dem ersehnten Doktortitel zustande. Aber nach einiger Zeit ist von dem hastig Zusammengelernten nur noch wenig vorhanden, oft nur noch das Diplom. Der Betreffende muss sich dann irgendwie durchwursteln, Fehler vertuschen oder auf andere abwälzen. Man gerät in Stress, vielleicht in die Mobbingfalle oder leidet unter Verfolgungswahn. Manchmal nennt man es auch „Burnout“. Kaum jemand sagt, er habe sich halt zuviel zugemutet, sondern eher, man habe ihn überlastet, ihm einfach zuviel aufgebrummt.

Also nochmals und ganz einfach: „Schuster, bleib bei deinen Leisten!“ Mach etwas, das deinen Fähigkeiten entspricht. Aber mach es gut! Ein guter Mechaniker, Schreiner, Maler oder Spengler ist viel gesünder und hat viel mehr Freude am Leben als ein gestresster Akademiker, der geistig und später auch seelisch und körperlich aus dem letzten Loch pfeift!

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